Für noch mehr Realitätsverlust

Eigentlich wollten wir an dieser Stelle einen Abgesang auf die Kunst anstimmen. Weil, wie relevant ist Kunst heute überhaupt noch? Denn im Grunde sollte es ja die Aufgabe der Kunst sein, uns für Themen zu sensibilisieren, Mechanismen und Abgründe thematisieren und parodieren, die wir aus unserem Leben normalerweise verdrängen. Im besten Fall ist das Erlebnis «Kunst» dann so eine Art alchemistisch-kathartischer Vorgang – der uns ein Stück weit von unserer armseligen Existenz emanzipiert, indem er uns auf sie hinweist. Kunst also quasi als prophylaktisches Abführmittel für einen potenziell implodierenden Gesellschaftskörper. So weit so lustig. Aber eben. Wir leben in einer Zeit, in der die ganz realen menschlichen Abgründe derart ungefiltert in der Öffentlichkeit zelebriert und propagiert werden, dass man sie nicht einmal mehr dann verdrängen kann, wenn man sich vorsätzlich wahnsinnig dumm stellt. Womit wir nun beim eingangs erwähnten Abgesang angekommen wären. Denn wie kann man künstlerisch noch etwas verarbeiten, das in seiner Überhöhung selbst schon fast so etwas Abstruses wie Kunst ist, bzw. sein will – und von grossen Teilen der Öffentlichkeit breitwillig konsumiert und verdaut wird?

Es ist zwar nicht neu, dass Menschen Unrat absondern. Neu ist aber, dass sie das ungestraft und in aller Öffentlichkeit tun (und zwar immer wieder), ganz auf die empirische Naturlaune ausgerichtet: Wenn man die ganze Zeit überallhin pinkelt, dann will irgendwann niemand mehr riechen, wie sehr es stinkt – und man hat sein Ziel erreicht: eine zivilisatorische Kloake als Nährboden für noch ungesündere Ideen.

Wie also soll sich die Kunst dazu verhalten bzw. das Theater? Wieder auf die Bühne scheissen, damit sich Menschen nachhaltig enervieren, oder dem klassischen bildungsbürgerlichen Sprechtheater zu einem Revival verhelfen – so à la «künstlerische Regression als subversiver Akt»? Wie auch immer,

dafür erntet man höchstens ein laues Gähnen.  Ebenso, wenn man sich bemüssigt fühlt, im Theater die Stammhirn-Kampagnen gewisser lokalpolitischer Kräfte zu thematisieren, oder die zersetzende Kraft des Geschäftsmannes mit der Frisur. Fakt ist: Stumpfsinn ist schon derart alltäglich geworden, dass sich schlicht niemand mehr dafür interessiert. Nicht zuletzt auch deshalb, weil man ja die Möglichkeit hat, seine Abneigung mit einem gepfeffert platzierten Hate-Emoji auf Facebook genügend zum Ausdruck zu bringen, sodass man danach die Angelegenheit mit gutem Gewissen auf sich beruhen lassen kann.

Wir KünstlerInnen müssen uns also was einfallen lassen in nächster Zeit. Denn die Politik wildert gehörig in unserem Revier und hat ganz offensichtlich längst ihre eigene Unterhaltungsindustrie aufgebaut – eine viel schlag- und finanzkräftigere notabene – und eine, die derart absurde und groteske Ergüsse von sich gibt, dass jede parodistische künstlerische Antwort darauf geradezu blutleer, weinerlich oder platt daherkommen muss. Gegen diese Form von demokratisch legitimierter und medial hofierter Fäkalkunst nimmt sich das vergleichsweise ärmlich subventionierte, aber viel gescholtene Unterhosentheater als geradezu niedliches und lächerlich harmloses Plagiat aus. Kurz: Kunst droht von der Realität verdrängt zu werden.

Eine neue Form von kreativer Frontalopposition ist also gefragt. Und die sollten Sie sich noch einmal reinziehen, bevor wir allesamt komplett verblöden und nicht mehr wissen, weshalb es so etwas wie Theater überhaupt noch braucht. Vielleicht pilgern Sie daher also wieder mal zu uns raus, an die gesellschaftliche Peripherie, ins «Kulturzentrum für Randständige», wie Matthias Hartmann, der Schauspielhaus-Intendant a.D. und Ex-Nachbar, in einem Interview einst sehr richtig schimpfte. Denn hier kriegen Sie Sachen zu sehen, die noch nicht vom Zeitgeist in Mitleidenschaft gezogen wurden. Live – und (fast) nur in diesem Theater!

Silvie von Kaenel, Michael Rüegg, Michel Schröder