Liebe Gemeinde

In Zeiten grosser globaler Umwälzungen besinnen sich Menschen gerne wieder auf das, was ihnen Sicherheit gibt und identitätsstiftend ist. Auf das, was sie kennen, wo sie Heimat und Geborgenheit finden, Klarheit und Struktur. In einer Bubble zum Beispiel, in Parteien, Werte- und Religionsgemeinschaften oder im Theater – oder sie scharen sich um Leute mit markanten Frisuren.

Denn heute sind es ja vor allem (das ist auffällig) Menschen mit Frisuren, die den Lauf der Dinge prägen und dem Kopfschmuck so ein neues Ausmass an Bedeutung zukommen lassen. Im Fussball ist das ja schon lange so. Nun also auch im echten Leben und in der Politik. Zum Beispiel die Rothaut mit dem orange-weiss-färbelnden Volahila-Föhnsturm von Übersee, der sich mit dem Mann mit dem komplizierten, etwas zu klein geratenen Toupet von Überübersee gerade in einem homoerotisch anmutenden Infight befindet. Aber auch in unseren Breiten- und Längengraden garnieren Spezialfrisuren Grossmäuligkeit und werden wie Saubanner vor dem Mob hergetragen, zur Kanalisierung und Potenzierung von Ängsten und Aggressionen, quasi um einer streitbaren Gesinnung einen wollenen Anstrich zu verpassen. Kurz: Was mal der Gesslerhut war, ist heute der natürliche, forciert-frisierte Kopfschmuck. Toupieren ist zum Beispiel wieder ganz hoch im Kurs, Mozart-Perücken-like ebenso, wie auch gemütliche blonde Wuschelköpfe und gradlinige Mittelscheitel. Aber selbstverständlich gehört es zur Natur des Profilierungszwangs, dass es auch Leute gibt, die sich ganz bewusst für eine Nichtfrisur entscheiden, um herauszustechen, oder aber sie entscheiden sich für eine Frisur ganz ohne Haare. Und längst sind es nicht mehr nur die Wortführer*innen, die sich mittels Haarschmuck ihre Gesinnung verschönern. Auch der Bart etwa erlebt ein unerwartetes Revival. Hinter ihm lassen sich auch für Normalsterbliche nicht nur prima behaarte Zähne verbergen, sondern auch unbehaarte Gesichtszüge.

Was aber wollen wir damit eigentlich genau sagen? Keine Ahnung. Vielleicht, dass eben nichts so ist, wie es scheint, und dass dieser Schein aber eben doch mehr preisgibt, als er verbirgt. Oder umgekehrt. Und dass man das eigentlich auch weiss, aber konsequenter­weise so tut, als gehe man dem Schein auf den Leim, einfach deshalb, weil das das Leben einfacher macht, als es ist. Und insofern muss man konstatieren, dass der Fake heute realer ist als das Echte und dass die Realität auch nicht mehr das ist, was sie noch nie war. Und eigentlich trifft das auf alles zu. Auch aufs Theater. Nur, im Theater war das schon immer so – auch damals, als man noch glaubte, was auf der Bühne gesagt wurde (falls man das denn jemals getan hat).

Insofern ist das Theater das Original des gefakten Fakes. Und noch heute gilt im Theater die anachronistisch anmutende Verabredung, dass der Fake echt ist, live und offensichtlich, und die Lüge die Wahrheit. Ja, man bezahlt sogar dafür, sich etwas vorgaukeln zu lassen – damit das Leben vielleicht ein bisschen erträglicher wird, als wenn man sich ausschliesslich in der Realität bewegt, die in Wahrheit gar keine ist.

Von da her: GEH DOCH INS THEATER, DU MENSCH!, denn hier wirst du noch ehrlich belogen.

Amen.

Silvie von Kaenel, Michael Rüegg, Michel Schröder